Predigt über Micha 7,18-20


3. Sonntag nach Trinitatis am 28.06.2020

Barmherzigkeit, liebe Gemeinde, ist die Grundmelodie dieses Sonntags. Genauer gesagt die Barmherzigkeit Gottes, von der wir in der Epistel (1. Tim 1,12-17) und im Evangelium (Lk 15,1-3; 11b-32) gehört haben und die uns so bildmächtig über dem Altar vor Augen steht: die Geschichte vom barmherzigen Vater. Jesus ist aber nicht der erste, der von der Barmherzigkeit Gottes gesprochen hat. Im Alten Testament etwa bei dem Propheten Micha findet sich dazu ein großartiges Lied, ein kleiner Psalm. Und mit ihm schließt das Buch des Propheten Micha. Diesen Text kennen, wie ich vermute, nur eifrige Bibelleserinnen und Leser. Wir hören aus Micha 7 die Verse 18-20:

18 Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade! 19 Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen. 20 Du wirst Jakob die Treue halten und Abraham Gnade erweisen, wie du unsern Vätern vorzeiten geschworen hast.

Gespräche, Diskussionen, Talkshows, liebe Gemeinde, sind gerade schwer angesagt. Es gibt viel zu besprechen und zu klären in unserer Gesellschaft: in Auseinandersetzung mit Corona und den Folgen. Aber das nicht nur bei uns. 

Vor meinem geistigen Auge taucht eine Talkshow aus den USA auf. Da hat ein eloquenter Talkshow-Moderator zwei Frauen und zwei Männer eingeladen. Die drängenden Probleme von Staat und Gesellschaft im Blick auf den bevorstehenden Wahlkampf um die US-Präsidentschaft, die kleidete sich für den Moderator in die Frage: „Welchen Gott brauchen wir?“ 

Seine Gäste sind ein junger Mann mit afroamerikanischer Herkunft, eine junge Frau, die den spanisch sprechenden Einwanderern zuzurechnen ist, eine ältere Dame mit weißer Hautfarbe und ein Mann im mittleren Alter, dessen Vorfahren aus Asien stammen. „Welchen Gott brauchen wir?“ 

Der junge Mann mit dunkler Hautfarbe und glühenden Augen legt los: „Wir brauchen einen Gott der Gerechtigkeit! Die Ungerechtigkeit bei uns und auf der Welt schreit zum Himmel! Die Todesstrafe für den Mörder von George Floyd! Recht und Gesetz! Die Armen verrecken in Slums und Baracken an der Corona-Pandemie, und die Reichen entspannen sich an ihren Swimming-Pools! Das ist ungerecht! Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben!“ ruft er aus. Der Mann mittleren Alters murmelt: „Buch der Sprüche, Kapitel 14.“ 

Das Wort ergreift die junge Frau. Sie trägt ein Kleid mit kräftigen fröhlichen Farben. Ihr Blick wirkt leicht entrückt. Sie sagt: „Auf die Liebe kommt es an. Und nur auf sie! Lasst uns Liebe lernen, Liebe machen und Liebe üben, dann lösen sich die Probleme wie von selbst. Die Liebe erträgt alles. Gott ist Liebe“. Der Mann mittleren Alters, ganz offensichtlich der eingeladene Fach-Experte, murmelt: „1. Korinther 13, 1. Johannes 4“. 

„Welchen Gott brauchen wir?“ Die Frage richtet sich an die ältere Dame. Sie trägt ihre weißen Haare sorgfältig frisiert, ihr Blick ist klar und direkt. Sie sagt: „Wir brauchen den Gott, den wir haben! Das ist der Gott, der Liebe ist. Das ist der Gott, der auf Gerechtigkeit dringt und sie von uns allen fordert. Das ist der Gott, der scharf und unbestechlich alle Abgründe von Bosheit, Versäumnissen und Ungerechtigkeit bei uns sieht. Und der sie ans Kreuz getragen hat. Und obwohl unser Gott die Abgründe von Sünde und Schuld bei uns Menschen nur zu genau kennt, hat er – im Gegensatz zu den Götzen von Macht und Reichtum – Gefallen an Gnade und Barmherzigkeit.“ „Micha 7!“, murmelt der Experte. 

„Keine Gnade für den Mörder von George Floyd!“, ruft der junge Mann mit fuchtelnden Armen. Die ältere Dame lässt sich nicht aus der Ruhe bringen: „Irdische Gerechtigkeit nach Recht und Gesetzgegenüber dem, der George Floyd zu Tode gebracht hat! Das haben Sie gerade zu Recht gefordert. Die Barmherzigkeit Gottes ist davon zu unterscheiden. Aber wir reden hier über das Grundsätzliche: Wenn wir uns am christlichen Gott orientieren wollen, an Vater, Sohn und Heiliger Geist, dann brauchen wir nicht nur ein Pochen auf Gerechtigkeit sondern auch ein Pochen auf Mitmenschlichkeit. Zum christlichen Glauben gehört eine Kultur der Barmherzigkeit und der Vergebung unbedingt dazu. Und das ist nicht selbstverständlich!“ 

Der Experte nickt eifrig. Und er fragt den jungen Mann nach seinem Vornamen. „Michael!“ antwortet der. Der Experte ist begeistert. „Sie haben die Botschaft dann schon in Ihrem Namen: ‚Wer ist wie Gott?’ – so muss man Michael übersetzen. Oder Micha, den Name des alttestamentlichen Propheten. Wer ist wie Gott, der sich unser erbarmt, unsere Schuld unter die Füße tritt und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres wirft!“

Wir kehren der Talkshow in den USA den Rücken und gönnen uns einen Moment der Verwunderung. Schon 500 Jahre vor Jesu Geburt haben die Menschen nicht einem Kraftprotz zugejubelt, der die Feinde vernichtet, sondern einem Gott, der es mit den Einzelnen und dem Volk als Ganzem wieder und wieder von neuem versucht: weil er Sünde und Schuld vergibt. 

Es tut uns gut, liebe Gemeinde, dies von neuem zu bedenken und zu feiern. Denn auf der einen Seite marschiert die Gnadenlosigkeit, die nichts vergisst und nichts vergibt in der Gesellschaft; das Internet ist da oft ein Beispiel dafür. Und auf der anderen Seite gibt es ein so massives Leugnen und Verdrängen von Schuld und Verantwortung, dass einem Angst und Bange werden kann. Ich sage nur ‚Fleischskandal’ und meine damit die Vorfälle in Gütersloh [mehr als 1300 mit dem Corona-Virus infizierte Angestellte bei der Fleischfabrik Tönnies]. 

Geradezu befreiend war dagegen, was jemand aus meiner Verwandtschaft neulich erlebt hat. Die entsprechende Person hatte ein parkendes Auto gerammt und den Vorfall brav der Polizei gemeldet. Und siehe da: Die Polizisten waren dermaßen freundlich und höflich, dass dies beinahe zu einer Wiederholung des Vorfalls verlocken würde. Die Polizisten waren froh, dass die Schuldfrage von meinem Verwandten klar bejaht wurde und übten dann dadurch Gnade, dass sie die fällige Strafe für die Ordnungswidrigkeit erließen! Die Versicherung muss noch arbeiten. Aber aus polizeilicher Sicht war die Verletzung der Straßenverkehrsordnung, diese Sünde vom Rammen eines anderen Autos in den Tiefen des Meeres verschwunden, taucht nur in der allgemeinen Statistik noch auf. 

Vergeben und sich Entschuldigen ist nicht einfach, es braucht Zeit, aber was für ein Trost ist unser Vertrauen und unsere Zuversicht auf einen barmherzigen Gott, der dies tut! Das großartige Lied vom Propheten Micha, es hat in der Geschichte der Christenheit immer wieder gewirkt. Paul Gerhardt etwa dichtete Folgendes: 

„Du strafst uns Sünder mit Geduld und schlägst nicht allzusehr, ja endlich nimmst du unsre Schuld und wirfst sie in das Meer.“ (EG 324,9)

AMEN

P. Dr. Bogislav Burandt