Liebe Leserinnen und Leser!
Scheint so weit weg, wirft so viele Fragen auf, all dies. Alttestamentliche Opferpraxis, auf die Passion Jesu übertragen. Aufforderungen, die schwer einzuordnen sind: wer ist „wir“, was ist „zu ihm hinausgehen“, was für ein Lager? Und zu guter Letzt: Wer hat hier den Status von Migranten? Ist das bloß skurril – oder doch relevant, so dass es eines Schlüssels bedarf, um in eine möglicherweise vorhandene Schatzkammer hinter diesen Worten zu gelangen?
Auffällig sind die Gegensätze: Drinnen – draußen. Vorübergehend – zukünftig bleibend. Anstößig: Blut. Aber: Wo Blut fließt, wirkt Lebenskraft. Wohin kämen wir ohne Bluttransfusionen, ohne Spender*innen? (Und weil’s gerade passt: am 6.4. findet von 16-19 Uhr der Blutspende-Termin des DRK in der Lukaskirche statt!)
Die Topografie changiert in seltsamer Weise: Das „Lager“ ist zunächst der Aufenthaltsort des aus der Knechtschaft befreiten, durch die Wüste in die Freiheit wandernden Gottesvolkes. Opfer regeln die Beziehung zu Gott, die archaische Vorstellung sagt: Das Böse, die Schuld, kann auf das Tier übertragen werden, dessen Blut schafft Sühne. Das Tier selber, mit der Schuld behaftet, wird nach draußen geschafft. Distanz zum Bösen schaffen dient dem Überleben. Wir sind aktuell genötigt, genau das zu leben.
Der Autor des Hebräerbriefes, sprachkundig und in der Hebräischen Bibel bestens bewandert, malt Jesus mit Hilfe der alttestamentlichen Bildersprache als letzt- und endgültiges Opfer. In seinem Sterben zieht Gott sein erwähltes Volk neu an sich und weitet die Erwählung aus: zu Israel kommen Glaubende aus den Völkern hinzu. Leider werden sie sich bald über Gottes zuerst erwähltes Volk erheben, es befeinden, bis hin zu dem grauenhaften Versuch, es auszurotten.
Sie sind das hier angesprochene „Wir.“ Ja, wir. Doch der Verfasser des Hebräerbriefs ahnt noch nichts von der schrecklichen Trennung. Er sieht im Auftreten, im Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu eine grundsätzliche Erneuerung des Bundes Gottes mit seinem Volk. Zu seiner Zeit sind Tempel und Jerusalem zerstört, in diesem alten Lager hält uns nichts mehr, schreibt er den Jesusgläubigen. Aber zu IHM halten wir uns, zum Gekreuzigten, zum Lebensspender, auch wenn sie uns deswegen mobben, verspotten, verfolgen. Wir schämen uns des ewigen und neuen Hohenpriesters nicht.
Ja, und wir sind „Hebräer“. Die hebräische Wurzel awar bedeutet „hinübergehen, überschreiten“. Wir überschreiten, überwinden Gräben, Mauern, Grenzen zwischen drinnen und draußen, gehen an vielem vorüber, aber klammern uns nicht an Vorübergehendes. Unser Migrationshintergrund ist das Paradies, unsere Sehnsucht ist die zukünftige Stadt – oder: Gottes Reich. Und zwischendurch ziehen wir hinter IHM her: hinter Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens.
P. i. R. Mag. theol. Gerd Brockhaus